In der letzten Ausgabe der Zeit (vom 21. August) war im Reiseteil die Beschreibung einer Bahnreise von Berlin nach London zu lesen. Die Autorin Susanne Kippenberger beschrieb ihre Reise als ein Experiment, welches darauf hinauslief, zum einen so schnell wie möglich per Bahn nach London zu kommen, zum anderen die Aspekte Fahrpreis, Komfort und Sinn einer solchen Reise zu beleuchten. Sie startete um 7:37 Uhr am Berliner Hauptbahnhof, stieg in Köln und Paris um und kam abends um 18:59 Uhr in London St. Pancras an. Sie zahlte von Berlin nach Paris 89 € (Europaspezialpreis) und von Paris nach London 294,80 €. Zurück nahm Sie das Flugzeug – wie es der Artikel suggeriert, noch am gleichen Abend – um 19:45 Uhr und war um 22:45 Uhr wieder in Berlin-Tegel zum Preis von 53 € zuzüglich 10 Pfund Flughafentransfer. Schließlich resümiert die Autorin am Ende ihrer Reise: „Wer mit der Bahn von Berlin nach London reist, hat sehr viel Sorge um das Klima, Flugangst oder einen Knall.“ Oder, füge ich hinzu, er braucht das Geld, das er für den Reisebericht bekommt, sehr dringend.
Ich hätte ihr geraten, diese Reise so nicht anzutreten, sondern sich von uns beraten zu lassen, um einige Parameter so zu gestalten, dass dieser Trip auch Sinn macht. Zunächst: die Verbindung über Paris ist weder die schnellste noch die preisgünstigste. Zügiger und wesentlich billiger wäre sie über Brüssel gefahren. Mehr als eine Stunde kürzer und über 250 € billiger. Denn von Brüssel nach London gibt es das Angebot „London-Spezial“ für 59 €. Unterbieten lässt sich dieser Preis noch mit einer Bahncard mit Railplus-Ermäßigung (ab 55 € zu haben). Dann kostet die Fahrt nur 45 €. Diese Angebote sind übrigens nicht so rar, dass man sie nicht bekommen würde. Sie hätte also durchaus für 90 – 150 € mit der Bahn reisen können – natürlich bei rechtzeitiger Buchung ca. drei Wochen im Voraus. Nun gut, damit hätten wir den Flugpreis nicht unterboten. (Wenn ich auch annehme, dass der Flug einige Wochen im Voraus gebucht wurde.)
Selbstverständlich wird die Autorin jetzt entgegenhalten, dass sie mit dem Zug aber immer noch das etwa Vierfache an Zeit benötige. Das ist richtig, aber auch nur dann entscheidend, wenn man nun wirklich rein gar nichts mit der Strecke an sich anfangen kann.
Der entscheidende Punkt ist doch: was will ich im Zug, was will ich in Paris, Brüssel oder London. Kann ich die Strecke nutzen, um mir Dinge anzuschauen, Freunde zu besuchen, Geschäftliches zu erledigen? Und ich sollte mir auch überlegen, ob es etwas gibt, das ich im Zug erledigen oder für mich tun kann (z.B. lesen, nachdenken – oder im Nachtzug: einfach nur schlafen.)
Deshalb hier mein kurzer Bericht einer erst kürzlich erfolgten London-Reise per Bahn, die ich sehr genossen habe. Nach einem erfolgreichen Arbeitstag nehme ich meinen Rucksack und fahre mit der S-Bahn zum Berliner Hauptbahnhof, wo ich mich mit meiner Freundin treffe. 21:45 Uhr startet ab Berlin Hauptbahnhof der Nachtzug nach Brüssel/ Paris. 6:11 Uhr sind wir in Brüssel Midi. Hier angekommen nehmen wir die U-Bahn und fahren zu Freunden, die für zwei Jahre in Brüssel wohnen. Ein herzliches Wiedersehen und ein gemeinsames Frühstück warten auf uns. Nach einem wunderschönen gemeinsamen Tag checken wir 18:35 Uhr in den Eurostar nach London ein und sind 19:56 Uhr in London St. Pancras. Wir sind hierher gefahren, weil ich noch nie in London war und eine gute Freundin hier seit Jahren lebt, die wir schon immer mal besuchen wollten. Wir gehen ins Pub und gemeinsam essen, fahren mit der Tube, diskutieren über das Leben in dieser Stadt und erfahren dieses hautnah an der sündhaft teuren und dabei winzigen Wohnung unserer beruflich doch gut situierten Gastgeberin. Am nächsten Tag Stadtführung mit unserer Freundin. Besonders in Erinnerung: der unkomplizierte, weil kostenlose Eintritt in alle Museen (Modern Tate, British Museum…) und die fußläufige Erreichbarkeit der main-sights – ohne viel Großstadttrubel. In der Rush-Hour geht’s mit der Tube wieder nach St. Pancras. Gegen 23 Uhr sind wir wieder auf dem Kontinent in Brüssel. Hier verbringen wir noch einen schönen Tag und fahren abends mit dem Nachtzug wieder nach Berlin.
Auch ich muss zugeben, dass man sich eigentlich mehr Zeit für eine solche Reise nehmen sollte. Aber die Frage, nach einem anderen Verkehrsmittel hat sich mir nicht gestellt. Weil ich Freunde getroffen habe, weil ich es genossen habe, abends irgendwo einzusteigen und früh woanders anzukommen. Weil ich nicht alleine gereist bin. Weil ich mich unterhalten konnte. Weil ich schnell unterwegs war. Weil man mit dem Zug immer mitten in der Stadt ankam. Eine Reise macht eben nur dann Sinn, wenn sie auf verschiedene Weisen Sinn macht. Und wenn auch die Strecke in irgendeiner Form Sinn macht. Eine Sünde ist es doch zum Beispiel, wie die Autorin in Paris von Gare de l’Est zum Gare du Nord zu hetzen, nur um den Zug zu erwischen, anstatt sich hier für einige Zeit niederzulassen.
Für einen Zeitungsartikel allein sollte man nur dann reisen, wenn einem das auch Spaß macht.
Tom Sehrer
Nachtrag des Autoren zehn Jahre später: Was waren das für Zeiten, als es noch den Nachtzug nach Brüssel/Paris gab? Ansonsten aber ist der Artikel weiterhin aktuell. Man muss das Reisen an sich wieder mehr zelebrieren und nicht immer an den schnellsten Weg zum Ziel denken.